Schlacht bei Waterloo
Ligny – Waterloo und General Bülow
Familienblatt Nr. 64, 2002/2003
Jenes gewaltige Ringen im Jahre 1815 in Belgien ist in unzähliger Literatur bearbeitet worden. Jedoch das Verhalten bzw. die entscheidende Mitwirkung des preußischen Generals der Infanterie Wilhelm Graf Bülow v. Dennewitz, wird entweder oft sehr konträr beschrieben oder vielfach ganz vergessen. Obwohl es gerade Bülow war, der durch den Einsatz seiner Truppen die Entscheidung in der Schlacht bei Waterloo herbeiführte und damit zum endgültigen Sturz des großen Aggressors, Unterdrückers oder Genies Napoleon Bonaparte entscheidend beitrug.
Es kann in einem kurzen Artikel die Aufgabe nicht darin bestehen, die Ereignisse vom Frühjahr 1815 wiederzugeben. Somit möchte ich hier die Gründe darstellen, warum Bülow mit seinem IV. preußischen Corps und somit ca. 30.000 Mann nicht an der Schlacht am 16. Juni bei Ligny teilnahm, in der Blücher mit seiner Armee eine empfindliche, ja beinahe vernichtende Niederlage erlitten hatte. Und zum anderen will ich aufzeigen, welchen Anteil dieses Bülowsche Armeecorps am siegreichen Ausgang der Schlacht bei Waterloo hatte. Diese Schlacht, die wir Preußen einst Belle-Alliance nannten und die Franzosen Mont St. Jean.
Die mit Wichtigkeit neuesten Quellen hierzu sind zu finden in der sehr umfangreichen Dissertation des heutigen amerikanischen Professors für Military History, Prof. Michael Leggiere an der University of North Texas. Meine unveröffentlichte Arbeit über Bülow-Dennewitz mit 169 Briefen, Befehlen, Berichten und historischen Erläuterungen waren eine wesentliche Unterstützung für dessen Dissertation (1997) und bilden die Grundlage für diesen Aufsatz (Vergleiche Familienblatt Nr. 62, Seite 40).
Nach über 25 Jahren Krieg in Europa zog durch die Besiegung, Abdankung und Verbannung des Franzosenkaisers Napoleon I. wieder Frieden ein. Im Wiener Kongress tagten und tanzten Europas siegreiche Fürsten und Staatsmänner. Verteilten die Ländereien nicht nur, neu, sondern stritten sich auch, ob die alten Zustände vor der französischen Revolution wieder einkehren sollten oder deren Errungenschaften vielleicht doch vom Vorteil sein könnten. – Diese Friedenseuphorie wurde jäh durch die Nachricht von Napoleons Landung in Südfrankreich am 1. März 1815 gestört. Die oberflächliche Loyalität zu den Bourbonen verflog im Nu und das Volk und die alten Truppen scharten sich in Massen um ihren alten Kaiser auf seinem Siegeszug nach Paris. Mit etwa 125.000 Soldaten seiner Nordarmee wollte Napoleon zuerst die schwachen Besatzungskräfte der Verbündeten am Niederrhein und in Belgien angreifen. Aber auch dort formierten sich nach der Mobilmachung deren Kräfte neu. Die Armee Wellingtons, die auch vielfach die ,,Niederländische“ genannt wird, bestand zwar nur aus ca. 35 % Briten, der größere Teil waren Hannoveraner Braunschweiger, Nassauer, Niederländer und Belgier, zusammen ca. 110.000 Mann. – Blücher, der über 70-jährige Feldmarschall, wurde der Oberbefehlshaber der preußischen Armee mit vier Armeekorps, der sogenannten „Armee vom Niederrhein“, mit etwa 116.000 Soldaten. Bülow war ausersehen, das IV., erst in der Aufstellung begriffene, Korps in dieser Armee zu führen.
Als Bülow diese Nachricht erreichte, befand er sich in Königsberg im Kreise seiner Familie. Er wollte nur Ruhe und Frieden haben und sich seiner geliebten Musik widmen. Dem Ruf des Vaterlandes zu neuen Pflichten im Kriege hätte er nicht nachkommen müssen, denn Bülow war krank. Die starken körperlichen und seelischen Belastungen als kommandierender General und die Verantwortung über 35.000-Mann im Feldzug von 1813/14 hatten Friedrich-Wilhelm stark angeschlagen. Er war nun im 61. Lebensjahr und litt an einer Lebererkrankung. Heute würde man wahrscheinlich nicht nur eine Gelbsucht, sondern eine Hepatitis diagnostiziert haben. Also strikte Ruhe, keine Aufregung und vernünftige Ernährung. Und so war auch nach dem damaligen Stand der Wissenschaften eine Kur in Karlsbad vorgesehen. Das musste nun verschoben, denn erst musste Napoleon endgültig besiegt werden. Bülow hatte daran wohl ohne Zweifel einen entscheidenden Anteil. Und so war denn auch nach seiner siegreichen Heimkehr seine angeschlagene Gesundheit für seinen baldigen Tod im Februar 1816 verantwortlich.
Bülow war vom König aber auch vorgesehen, nicht nur das IV. preußische Armeekorps zu führen, sondern er sollte eventuell das Oberkommando über die gesamte preußische „Armee vom Niederrhein“ übernehmen, im Falle der greise Marschall Blücher ausfallen sollte. Blücher war zwar für sein Alter körperlich noch fit, aber es war auch bekannt, dass er schon öfters aus gesundheitlichen Gründen ausgefallen war, wie besonders 1814 im Februar in Frankreich. Blücher verließ sich dann ganz auf seinen Generalstab und hier besonders auf Gneisenau. Damals, 1814, hatte sich Bülow im Stabe Blüchers keine Freunde gemacht. Besonders nicht bei Gneisenau, Müffling und Grolmann. Die beiden Letzteren haben das Bülow – lange nach seinem Tode – in ihren Memoiren vergelten lassen, indem sie eine unkorrekte Darstellung von Bülows Verhalten vor der Schlacht von Ligny wiedergaben, Darstellungen, die dann zeitweilig auch ihren subjektiven Niederschlag fanden, ohne das eine Gegendarstellung möglich war. Ja, Grolmann verstieg sich sogar zu der Äußerung, Bülow hätte vor ein Kriegsgericht gehört und seinen Kopf verlieren müssen! Letzteren haben das Bülow – lange nach seinem Tode – in ihren Memoiren vergelten lassen, indem sie eine unkorrekte Darstellung von Bülows Verhalten vor der Schlacht von Ligny wiedergaben, Darstellungen, die dann zeitweilig auch ihren subjektiven Niederschlag fanden, ohne das eine Gegendarstellung möglich war. Ja, Grolmann verstieg sich sogar zu der Äußerung, Bülow hätte vor ein Kriegsgericht gehört und seinen Kopf verlieren müssen!
Was war geschehen damals, zu Beginn des Jahres 1814 bei Blüchers Vormarsch in Frankreich? Fürst Schwarzenberg äußerte sich dazu: ,,Mein alter Blücher fängt schon wieder an, wie unsinnig vorzurennen, ohne zu bedenken, dass der Feind vor ihm zwar schwach ist, in seiner Flanke aber stark. Es wäre ein Wunder, wenn dieses Zerstückeln seiner Kräfte ihm nicht abermals einen Unfall bereiten sollte.“ Und als Kaiser Napoleon von Blüchers stürmischen Vormarsch erfuhr: ,,Ich bin eben dabei, Blücher mit den Augen zu schlagen. Ich breche auf und schlage ihn morgen und übermorgen und die Lage wird sich vollständig verändern.“ Und so siegte im Februar 1814 der Kaiser bei Chambaubert, Montmirail und Vauchamps und brach die bereits eingeleiteten Waffenstillstandsverhandlungen ab.
Tatsächlich musste die Armee Blüchers eine Niederlage nach der anderen einstecken, so dass es beinahe zur Katastrophe gekommen wäre. Erst das Eintreffen des Korps Bülow und anderer Truppen bei Soissons am 4. März 1814 war mit Sicherheit als Rettung Blüchers zu bewerten. Bülow, der siegreich die ganzen Niederlande erobert und nie eine Schlacht verloren hatte, wurde von Marschall Blücher wegen seiner herrlichen Kriegstaten beglückwünscht, indem er sich selbst als einen bezeichnete, der kürzlich die „schönste Schmiere“ bekommen hatte. Die
schlesische Armee Blüchers war in der Tat in einem beklagenswertem Zustand. Die „Reiche-Memoiren“ sagen dazu folgendes: ,,Herzlich willkommen begrüßten wir unsere Brüder, Nicht wenig Staunen und Verwunderung erregte aber der erste Anblick. Bülows Leute waren im besten Zustand, in bester Kriegsverfassung. Jene (Blüchers Truppen) gewährten einen höchst traurigen Anblick. ‚Durch anstrengende Märsche, meist unglückliche Gefechte, Strapazen und Entbehrungen waren sie abgerissen, heruntergekommen, fast ohne Fußbekleidung, dass man sich kaum eine Vorstellung machen konnte. Wie bei solchen Gelegenheiten üblich, schob man die Schuld dafür auf die Armeeführung.“
Beim ersten vertraulichen Gespräch Bülows mit seinen „Generalskollegen“ der Blücherschen Armee, Yorck und Kleist, machte dann Bülow sich auch Luft über die schonungslose Truppenführung: ,,Was seid Ihr für Kerls, dass Ihr Euch von den Untergeordneten des Hauptquartiers, von dem verbrannten Gehirn Gneisenaus, von dem …gesicht Müffling, von dem Grolmann und wie sie alle heißen, befehlen und verbrauchen lasst?“ Bülow wollte damit sagen, dass die Korpskommandeure bei Krankheit des Oberbefehlshabers die Führung der schlesischen Armee zu übernehmen haben, nicht aber die Führungsgehilfen im Stabe, welche die Truppen unnötig verbrauchen.
Diese Äußerungen und Einstellung Bülows muss hier erwähnt werden, da sie ihm bei Gneisenau als Generalstabchef und besonders Müffling als Generalquartiermeister von Blüchers Armee bestimmt keine Sympathien eingebracht haben. Müffling bezeichnete Bülow sogar als „einen sich selbst überschätzenden Windbeutel“. Und so ließ Müffling in seinen Erinnerungen lange nach Bülows frühem Tod kein gutes Haar an dessen Verhalten, besonders was die Ereignisse betraf, die zu Blüchers Niederlage bei Ligny am 16. Juni 1815 führten.
Die Frage ist in knappen Worten nun zu klären, warum haben Bülows Truppen nicht an der Schlacht bei Ligny teilgenommen und hätten somit andernfalls mit Sicherheit Blüchers Niederlage verhindern können:
- War Bülow zu weit entfernt?
- Hatte Bülow die Feindlage nicht richtig eingeschätzt?
- Waren die Befehle nicht eindringlich und täuschten über die Lage hinweg?
- Kamen die Befehle zu spät oder überhaupt nicht?
- War Bülow zu eigenmächtig und hat die Befehle ignoriert?
- Hätte die Schlacht nicht angenommen werden dürfen?
Der Punkt, dass Bülow die Befehle ignoriert hätte und zu eigenmächtig war, ist auszuschließen. Dies entsprach nicht seinem Verhalten als Truppenführer in der Vergangenheit noch in der Zukunft, bei allem starken Selbstbewusstsein seiner Natur – Indessen wurde die Feindlage weder zum Hauptquartier Blüchers, noch in dem von Wellington richtig eingeschätzt. Man hatte mal wieder die schnellen Entschlüsse des Kaisers – verbunden mit der Überraschung – unterschätzt. Blücher, in der falschen Einschätzung, dass Wellington ihm zur Hilfe mit seinen Truppen kommt und Bülow mit seinem Korps rechtzeitig eintreffen kann, nahm die Schlacht an und verlor. Wellington erfuhr erst am Nachmittag des 15. Juni von beginnenden Feindseligkeiten und besuchte aber trotzdem erst mal mit seinen Offizieren einen Ball in Brüssel, um dann am anderen Morgen, überstürzt in ein Gefecht bei Quatre-Bras verwickelt zu werden.
Noch am 15. Juni schreibt Bülow in aller Ruhe aus Lüttich einen langen Brief an seine Frau. Er erwartet Befehle aus dem Hauptquartier und ist der Meinung, dass es höchste Zeit ist, zur Offensive überzugehen, damit Napoleon nicht Zeit gewinnt. Tatsächlich zeichnet sich Blüchers Hauptquartier durch Mangel an Mitteilungen über die militärische Lage aus, so dass Bülows Ansichten durch die Tatsachen längst überholt und bereits widerlegt sind. Am 15. Juni um 11.30 Uhr vormittags schreibt Blücher an Bülow aus Namur, dass die Feindseligkeiten begonnen haben und Bonaparte mit seinen Garden selbst zugegen ist. Blücher ersucht Bülow, ,,sobald Ihr Korps die nötige Ruhe bei Hanut genossen hat, spätestens morgen früh (16. Juni) bei Tagesanbruch aufzubrechen und auf Grembloux zu marschieren.“ Bülow erhielt diesen Befehl aber erst am 16. Juni morgens 5.00 Uhr beim Aufbruch in Lüttich und so konnte das IV. Korps erst am 17. Juni in Gembloux sein. Die tragische Schlacht bei Ligny fand aber bereits am 16. Juni statt.
Bei witterungsbedingt schlechtesten Straßenverhältnissen hatten Bülows über 30.000 Mann mit schwerem Geschütz in 16 Stunden von Lüttich über Hanut und weiter nach Gembloux 65 Kilometer zurückgelegt. Bis in die Gegend von Ligny wären es noch einmal 10 Kilometer gewesen! Eine weit überdurchschnittliche Marschleistung, die trotzdem nicht ausgereicht hätte, Blüchers Niederlage noch zu verhindern. Die Befehle und Gegenbefehle aus dem Hauptquartier an Bülow sind natürlich noch zahlreicher und zum Teil nur in den später erschienenen Memoiren von Grolmann und Müffling zu finden. Die besagten Befehle wurden angeblich durch Feldjäger überbracht und „abgelegt“, weil Bülow am Überbringungsort noch nicht eingetroffen war. Eine etwas fadenscheinige Behauptung dieser Herren im Nachhinein, zumal solche wichtigen Befehle an einen kommandierenden General durch Offiziere, also Ordonanzoffiziere oder Adjutanten in jener Zeit und dieser Situation normalerweise überbracht wurden. Aide de Camp hießen diese Herrn bei Napoleon und in allen Heeren war die Befehlsübermittlung ähnlich.
Bülow selbst sagte später zu einem Offizier seines Stabes: ,,Wenn die Schlacht von Belle-Alliance nicht so glücklich abgelaufen wäre, würden die Herrn ihr Möglichstes getan haben, mich vor ein Kriegsgericht zu stellen, was ich indes durchaus nicht gefürchtet haben würde.“
Feldmarschall Blücher, der Bülow wegen Ligny keineswegs Vorwürfe machte, beriet sich mit Bülow wegen Annahme einer gemeinsamen Schlacht mit Wellington. Mit Blüchers Einvernehmen ging dieser Vorschlag Bülows am 17. Juni an den britischen Herzog. Müffling befand sich 1815 als preußischer Verbindungsoffizier im Stabe Wellingtons. Daher ist es doch sehr erstaunlich, dass ein Entwurf mit gleichem Bezug, wie Bülows Vorschlag vom 17. Juni 1815 – also kurz vor der Schlacht bei Waterloo – in den Memoiren des Generals von Müffling 30 Jahre später als eigenes Gedankengut desselben dort wiederauftaucht!
Es ist schon ein eigenartiges Phänomen, dass Müffling, der als pflichtbewusster und korrekter Generalstabsoffizier galt, sich strategische Gedanken Bülows vor der Schlacht von Waterloo Jahre später selbst zu eigen macht. Und das ebenfalls Jahre später ein anderer ebenfalls bewährter Offizier, nämlich Grolmann, im Nachhinein von weiteren Befehlen Blüchers an Bülow spricht, die diesen entweder nicht erreicht haben sollen oder die jener ignoriert hätte. – Bülows harte Kritik an Blüchers Führungsstab und dessen rücksichtslose und teilweise unvorsichtige Kriegsführung aus dem Jahre 1814 bei Soissons hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Jedoch auch im persönlichen Verhältnis der Herren miteinander.
Entscheidend für den Sieg der Alliierten über den Korsen bei Waterloo ist aber nun der Brief oder besser Befehl – denn man drückte sich damals unter den Kommandierenden sehr höflich aus – vom 17. Juni 1815, nachts 24.00 Uhr, aus Blüchers Generalkommando der Armee vom Niederrhein in Wavre an den General der Infanterie v. Bülow. Dieser entscheidende Brief war bisher unveröffentlicht und zählte zu den wenigen Dokumenten, die seiner Zeit 1945 bei der Flucht aus Ostpreußen gerettet werden konnten. Wie mir mein verstorbener Vetter Manfred einmal erzählte, soll dieses Schreiben im NATO Hauptquartier in Brüssel einst großen Eindruck gemacht haben und ist, wie mir gesagt wurde, auf einer Kupferplatte verewigt. Was ist so besonders an diesem Schreiben? Einmal ist es nicht in Befehlsform, sondern als Auftrag gehalten. Ein Zeichen, dass im preußisch-deutschen Heer immer die Auftragstaktik vorherrschte. Denn diese Art der Kriegsführung beinhaltet ein großes Maß an selbständiger Entscheidungsfreiheit bei der Ausführung des Auftrages beim Kommandierenden. Und widerspricht völlig dem Ungeist des Kadavergehorsams und damit Einengung der eigenen Initiative, so wie es das Gegenteil der Auftragstaktik, nämlich die Befehlstaktik zwangsläufig mit sich bringt.
Wellingtons hart ringende Armee stand gegen 16.00 Uhr nachmittags bei Waterloo kurz vor einer schweren Niederlage. Napoleon, die für Wellington kritische Lage erkennend, setzte seine Kaisergarde mit 23 Bataillonen, also ca. 14.000 Mann Elitetruppen zum entscheidenden Angriff auf Wellingtons stark erschüttertes Zentrum an. Da erschien Bülows Korps in der Flanke und im Rücken der französischen Gefechtsaufstellung. Um eine Katastrophe zu verhindern, musste der Kaiser um disponieren. Ein Teil seiner Garde und ein weiteres Korps, die eigentlich zum entscheidenden Angriff auf Wellingtons Zentrum benötigt wurden, mussten dem vorgehenden Bülow entgegengeworfen, um nicht in Flanke und Rücken aufgerollt zu werden. Es entspann sich ein sehr verlustreicher Kampf, der hin- und herwogte. Bis schließlich nach Stunden weitere Truppen Blüchers das Ringen entschieden. Nicht nur Wellington war gerettet, sondern die Alliierten hatten einen entscheidenden Sieg errungen, der das Gesicht Europas endgültig veränderte.
Bei witterungsbedingt schlechtesten Straßenverhältnissen hatten Bülows über 30.000 Mann mit schwerem Geschütz in 16 Stunden von Lüttich über Hanut und weiter nach Gembloux 65 Kilometer zurückgelegt. Bis in die Gegend von Ligny wären es noch einmal 10 Kilometer gewesen! Eine weit überdurchschnittliche Marschleistung, die trotzdem nicht ausgereicht hätte, Blüchers Niederlage noch zu verhindern. Die Befehle und Gegenbefehle aus dem Hauptquartier an Bülow sind natürlich noch zahlreicher und zum Teil nur in den später erschienenen Memoiren von Grolmann und Müffling zu finden. Die besagten Befehle wurden angeblich durch Feldjäger überbracht und „abgelegt“, weil Bülow am Überbringungsort noch nicht eingetroffen war. Eine etwas fadenscheinige Behauptung dieser Herren im Nachhinein, zumal solche wichtigen Befehle an einen kommandierenden General durch Offiziere, also Ordonanzoffiziere oder Adjutanten in jener Zeit und dieser Situation normalerweise überbracht wurden. Aide de Camp hießen diese Herrn bei Napoleon und in allen Heeren war die Befehlsübermittlung ähnlich.
Bülow selbst sagte später zu einem Offizier seines Stabes: ,,Wenn die Schlacht von Belle-Alliance nicht so glücklich abgelaufen wäre, würden die Herrn ihr Möglichstes getan haben, mich vor ein Kriegsgericht zu stellen, was ich indes durchaus nicht gefürchtet haben würde.“
Feldmarschall Blücher, der Bülow wegen Ligny keineswegs Vorwürfe machte, beriet sich mit Bülow wegen Annahme einer gemeinsamen Schlacht mit Wellington. Mit Blüchers Einvernehmen ging dieser Vorschlag Bülows am 17. Juni an den britischen Herzog. Müffling befand sich 1815 als preußischer Verbindungsoffizier im Stabe Wellingtons. Daher ist es doch sehr erstaunlich, dass ein Entwurf mit gleichem Bezug, wie Bülows Vorschlag vom 17. Juni 1815 – also kurz vor der Schlacht bei Waterloo – in den Memoiren des Generals von Müffling 30 Jahre später als eigenes Gedankengut desselben dort wiederauftaucht!
Es ist schon ein eigenartiges Phänomen, dass Müffling, der als pflichtbewusster und korrekter Generalstabsoffizier galt, sich strategische Gedanken Bülows vor der Schlacht von Waterloo Jahre später selbst zu eigen macht. Und das ebenfalls Jahre später ein anderer ebenfalls bewährter Offizier, nämlich Grolmann, im Nachhinein von weiteren Befehlen Blüchers an Bülow spricht, die diesen entweder nicht erreicht haben sollen oder die jener ignoriert hätte. – Bülows harte Kritik an Blüchers Führungsstab und dessen rücksichtslose und teilweise unvorsichtige Kriegsführung aus dem Jahre 1814 bei Soissons hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Jedoch auch im persönlichen Verhältnis der Herren miteinander.
Entscheidend für den Sieg der Alliierten über den Korsen bei Waterloo ist aber nun der Brief oder besser Befehl – denn man drückte sich damals unter den Kommandierenden sehr höflich aus – vom 17. Juni 1815, nachts 24.00 Uhr, aus Blüchers Generalkommando der Armee vom Niederrhein in Wavre an den General der Infanterie v. Bülow. Dieser entscheidende Brief war bisher unveröffentlicht und zählte zu den wenigen Dokumenten, die seiner Zeit 1945 bei der Flucht aus Ostpreußen gerettet werden konnten. Wie mir mein verstorbener Vetter Manfred einmal erzählte, soll dieses Schreiben im NATO Hauptquartier in Brüssel einst großen Eindruck gemacht haben und ist, wie mir gesagt wurde, auf einer Kupferplatte verewigt. Was ist so besonders an diesem Schreiben? Einmal ist es nicht in Befehlsform, sondern als Auftrag gehalten. Ein Zeichen, dass im preußisch-deutschen Heer immer die Auftragstaktik vorherrschte. Denn diese Art der Kriegsführung beinhaltet ein großes Maß an selbständiger Entscheidungsfreiheit bei der Ausführung des Auftrages beim Kommandierenden. Und widerspricht völlig dem Ungeist des Kadavergehorsams und damit Einengung der eigenen Initiative, so wie es das Gegenteil der Auftragstaktik, nämlich die Befehlstaktik zwangsläufig mit sich bringt.
Wellingtons hart ringende Armee stand gegen 16.00 Uhr nachmittags bei Waterloo kurz vor einer schweren Niederlage. Napoleon, die für Wellington kritische Lage erkennend, setzte seine Kaisergarde mit 23 Bataillonen, also ca. 14.000 Mann Elitetruppen zum entscheidenden Angriff auf Wellingtons stark erschüttertes Zentrum an. Da erschien Bülows Korps in der Flanke und im Rücken der französischen Gefechtsaufstellung. Um eine Katastrophe zu verhindern, musste der Kaiser um disponieren. Ein Teil seiner Garde und ein weiteres Korps, die eigentlich zum entscheidenden Angriff auf Wellingtons Zentrum benötigt wurden, mussten dem vorgehenden Bülow entgegengeworfen, um nicht in Flanke und Rücken aufgerollt zu werden. Es entspann sich ein sehr verlustreicher Kampf, der hin- und herwogte. Bis schließlich nach Stunden weitere Truppen Blüchers das Ringen entschieden. Nicht nur Wellington war gerettet, sondern die Alliierten hatten einen entscheidenden Sieg errungen, der das Gesicht Europas endgültig veränderte.
Die Franzosen hatten an Toten, Verwundeten und Gefangenen einen Verlust von ca. 32.000 Mann; Wellingtons vereinigte Armee ca. 13.000 und die preußische Armee ca. 6.700 Mann, von denen allein das Korps Bülow 6.350 Mann zu beklagen hatte. Dieses einzige Korps von insgesamt sieben der Alliierten hatte von den Gesamtverlusten in relativ kurzer Zeit ca. 32 % zu tragen. Und so schrieb denn auch Wellington am 19. Juni 1815 – also einen Tag nach der Schlacht – an den König der Niederlande: ,,Ich müsste min eigenes Gefühl verleugnen, wenn ich den glücklichen Ausgang dieses gefahrvollen Streites nicht der treuen und zur rechten Zeit verliehenen Hilfe des Marschalls Blüchers und der preußischen Armee beimessen würde.“ Leider fand in der britischen Geschichtsauffassung bis zum heutigen Tage vielfach eine Verleugnung des herzoglichen „Gefühls“ statt. Es wurde die Version entwickelt, die Preußen, und hier besonders Bülow, hätten nicht wesentlich zur Entscheidung beigetragen, sondern nur noch die Verfolgung des Gegners übernommen. Die Briten hätten die Schlacht auch ohne Blücher gewonnen. Die Fakten sprechen jedoch gegen diese Geschichtsklitterung. – Indessen Blücher nannte Bülow nach der Schlacht: ,,Seine Hebamme“.
Wellington änderte seine Meinung, die noch unter dem Eindruck des gemeinsamen Sieges stand, sehr schnell. Und so schreibt schon Bülow am 4. Juli 1815 an seine Frau unter anderem: ,, … ich bin ganz wohl, obgleich die große Anstrengung mich etwas angegriffen hat. Ob eine richtige Relation von der Bataille am 18ten erscheinen wird, daran zweifle ich. Ich lege Dir daher ein Pariser Blatt bei, wo rinnen die Wellingtonsche Relation, so wie sie in den Englischen Blättern bekannt gemacht.“ Und wie lautete Wellingtons perfide Relation: ,,Der Kampf hat den ganzen Tag bis zum späten Abend angedauert. Er ist allein von der englischen Armee ohne Hilfe der Preußen geführt worden …“ – Bülow hat folglich nach Wellingtons Bericht nicht viel mitgewirkt, ist erst gegen 19.00 Uhr (statt 16.00 Uhr) auf dem Schlachtfeld erschienen, ist über das Schlachtfeld mit seinen Truppen gestapft, gegen die Rückzugslinien des Feindes. Und hat mal schnell über 6.000 Mann Verluste gehabt, also ca. 1/3 der Gesamtverluste der Alliierten für einen „Spaziergang“. – Welche Gefühlswallungen und Gewissenskonflikte müssen dieser große britische Herzog in wenigen Tagen durchgestanden haben?
Bülow hatte an Auszeichnungen, Dotationen, Standeserhöhungen und Belobigungen nahezu alles erreicht, was sich ein verdienter Soldat vorstellen konnte. Nur die Beförderung zum Feldmarschall sollte ihn wegen seines frühen Todes nicht mehr rechtzeitig erreichen. Aber König Friedrich Wilhelm III. hatte noch eine andere hohe Auszeichnung für ihn vorgesehen. Mit Kabinettsordre vom 29. Juni 1815 sollte der Kronprinz – der spätere König Friedrich Wilhelm IV. – seine militärische Ausbildung durch Bülow erhalten. ,, …und wünsche ich, dass Sie sich damit beschäftigen mögen, die Erfahrungen und Vorfälle des Krieges für ihn so lehrreich als möglich werden zu lassen. Ich erwähle Sie hierzu in der Überzeugung, dass der Kronprinz unter Ihren Augen und Ihrer Anleitung mit wahrem Nutzen den Krieg kennen lernen wird. Ich überlasse es ganz Ihrer Beurteilung, den Kronprinzen für seine künftige Bestimmung vorzubereiten … Ich werde darin gern ein neues Verdienst erkennen, welches Sie sich um den Staat erwerben“.
In Paris, welches am 4. Juli 1815 kapituliert, erhält Bülow diese königliche Kabinettsordre.
Der Kronprinz war damals 19 Jahre. Bülow hatte sich schon mehrfach als Prinzenerzieher bewährt. Für ihn war es nicht nur eine hohe Ehre, sondern ein großes Vertrauen des Königs in Bülows hohe militärische Begabung, seinen Umgang mit Menschen und seinen Charakter. Unter all den bewährten preußischen Generälen wird Bülow wiederum als Prinzenerzieher, diesmal sogar für den Kronprinzen, ausgewählt. Wenn man Bülow gerade im letzten Feldzug auch nur den geringsten Makel oder sogar Versagen hätte nachweisen können, so wäre er mit Sicherheit für diese Aufgabe nicht ausersehen worden.
Literatur:
Friedrich-Wilhelm Graf Bülow v. Dennewitz, „Dokumente in Briefen – Befehlen – Befehlen“
Unveröffentlichte Arbeit mit 169 Briefen und historischen Anmerkungen in 2 Bänden. 1992 vom Autor dieses Berichts.
Joachim-Albrecht Graf Bülow v. Dennewitz (X-598), Roßdorf b. Darmstadt



